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"Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz
in religiösen Symbolsystemen"

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Dr. Christine Schirrmacher, Heverlee/Belgien

Ehrenmord und Emanzipation -
Geschlechterrollen in Migrantenkulturen vor dem Hintergrund nahöstlicher Begriffe von "Ehre" und "Schande"

Abstract:

Kulturelle Normen, gesellschaftliche Erwartungen und sich daraus ergebende traditionelle Verhaltensmuster, die mit dem Begriff der "Geschlechterrollen" einer bestimmten Region oder dem Umfeld einer Religion zuzuordnen sind, bieten nicht nur ein Forschungsfeld für historische, religionsvergleichende oder soziologische Fragestellungen. Denn nicht der distanzierte Blick auf historische Gegebenheiten steht heute im Mittelpunkt unseres Interesses, sondern ganz konkrete Ursachen und Auswirkungen kulturell-religiös begründeter Normen im nahöstlichen Kontext, die - durch die europaspezifische Arbeitsmigration bedingt - nun täglich auch hierzulande im Focus des allgemeinen Interesses liegen.

Zwar findet die bei muslimischen Gruppierungen praktizierte Bestrafung der Mißachtung der klar definierten Rolle der Frau durch den "Ehrenmord" keine Grundlage in der Theologie des Islam. Der Koran äußert sich nicht zu diesem Thema, erst recht ordnet er nicht den Ehrenmord an. Dennoch ereignen sich Ehrenmorde vor allem in islamischen Gesellschaften, in denen sehr eindeutig und streng definierte Normen für Mann und Frau, die mit religiösen Anordnungen begründet werden, im Kollektiv überwacht und Grenzüberschreitungen vor allem Frauen schuldzuschreibend zur Last gelegt werden. Sie sind die ersten Opfer von Bestrafungsaktionen, meist durch Freiheitsentzug oder Ehrenmord.

Auch in westlichen Ländern sind nahöstliche Auffassungen weiblicher und männlicher Geschlechterrollen wie auch die Ehrenmorde selbst zu einem Thema von immenser Bedeutung geworden. Geht es doch zunächst darum, sich überhaupt mit kulturell-religiös begründeten Sichtweisen von Zuwanderergemeinschaften zu beschäftigen. Dann aber muß es - allein im Zuge der brennenden Fragen von Integration und der praktischen Gestaltung eines konstruktiven Zusammenlebens - auch um eine fundierte Auseinandersetzung über die Grenzen kultureller Toleranz und um konkrete Menschenrechtsverletzungen gehen.

Anfang des Jahres 2005 kam erneut eine junge Frau türkischer Herkunft mitten in Berlin zu Tode. Ihre Familie hatte Hatun Sürücü zur Last gelegt, dass sie allein lebte, "wie eine Deutsche". Sie starb auf offener Straße - aus Gründen der "Ehre." Weitere 40 Fälle sind für Deutschland offiziell bekannt; etwa 5.000 Fälle sollen es jährlich weltweit sein. Globalisierung bedeutet in Bezug auf Kultur, Tradition und Religion, dass sich auch westliche Gesellschaften dringend mit der praktischen Seite der Problematik von Geschlechterrollen und die ihnen zugrundeliegenden Auffassungen von Ehre und Schande beschäftigen müssen. Althergebrachte Normen der Stammesgesellschaften sind dabei ebenso in Betracht zu ziehen wie soziologische Faktoren - z. B. die Verfestigung von Traditionen in der Diaspora - oder religiöse traditionelle Werte, die häufig als Begründung für die normative Definition weiblicher und männlicher Rollen angeführt werden. Denn nicht nur die Frau, auch der Mann wird hier zum ‚Gefangenen' einer durch die Gesellschaft ihm zudiktierten Rolle, der er sich kaum entziehen kann.

Ist es Zufall oder Zwangsläufigkeit, dass gerade in der dritten Generation muslimischer Migranten diese Problematik besonders aufbricht? Dass Frauen und Mädchen dieser Generation mehr denn je Schutz vor Zwangsverheiratung, Ehrenmorden oder Genitalverstümmelung in Frauen- und Mädchenhäusern suchen? Wie geht die Mehrheitsgesellschaft damit um? Welche Auswege und Lösungen zeichnen sich ab?



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